




Morgenandacht, 12.09.2020
von Domkapitular Gerhard Stanke, Fulda
Wer bin ich?
Karl Valentin, der bekannte Münchner Komiker, ging durch die Stadt München und fragte die Passanten:
„Können Sie mir sagen, wo ich hinwill?!“
(Peter Hahne, Passiert - notiert, Seite 9)
Einige der Angesprochenen werden den Kopf geschüttelt haben oder geschmunzelt haben. Andere wurden vielleicht nachdenklich. Wenn ich nicht weiß, wo ich hinwill, ist jeder Weg der falsche.
„Können Sie mir sagen, wo ich hinwill?!“
Es geht bei dieser Frage nicht um Reise- oder Urlaubsziele. Die Auswahl dieser Ziele war in diesem Jahr sehr begrenzt. Mancher Traum konnte nicht verwirklicht werden.
Die Frage von Karl Valentin meint ja, wo ich mit mir hinwill, welches Lebensziel ich habe. Das muss ich selbst finden. Das kann mir niemand sagen. Das hängt mit der Frage zusammen: Wer ich bin und wie ich mich verstehe.
Die Antwort auf diese Frage kann ich nicht allein im Nachdenken über mich finden. Wer ich bin, erfahre ich wesentlich durch die Begegnung mit den Mitmenschen: Sie spiegeln mir mein Verhalten. Sie geben mir Rückmeldung auf das, was ich sage, was ich tue und wie ich mich verhalte. Wenn mir jemand sagt:
„Du kannst überhaupt nicht zuhören, dauernd musst du einen unterbrechen.“
Dann mag das vielleicht meinem Selbstbild widersprechen. Zumal, wenn ich immer wieder betone, wie wichtig das Zuhören ist. Mitmenschen erleben mich anders, als ich mich selbst. Sie können mir helfen, mein Selbst-Bild zu korrigieren.
Andere Reaktion können mir wiederum auch Mut machen. Zum Beispiel wenn mir jemand etwas zutraut. So kann ich entdecken, was in mir steckt. Ich glaube: Jeder und Jede ist das, was er oder sie ist, auch durch andere geworden – im Positiven wie im Negativen.
„Wer bin ich?“
Mit dieser Frage hat auch Dietrich Bonhoeffer gerungen. In der Nazizeit wurde der evangelische Theologe wegen seines Widerstandes gegen das Hitlerregime hingerichtet. Während er in einer Zelle des Gefängnisses Tegel saß, hat er ein Gedicht - oder besser ein Gebet geschrieben mit dem Titel: „Wer bin ich?“ Darin heißt es:
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich beides zugleich?Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
(in: E. Metaxas, Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen 2017?, o. S.)
Das ist eine Antwort, die innere Ruhe schenken kann.
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Über den Autor Prälat Gerhard Stanke

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