




Morgenandacht, 29.01.2019
von Dr. Peter-Felix Ruelius aus Schlangenbad-Georgenborn
Nur ein Papiertaschentuch
Am äußersten Ende des liebevoll angelegten Gartens bei ihrem Gästehaus haben Ordensschwestern eine Klagemauer errichtet: Das ist eine ungefähr schulterhohe Mauer aus Feldsteinen, die dazu einlädt, alle Klagen loszuwerden, für die niemand ein Ohr hatte oder die so tief sind, dass man sie nicht aussprechen will. Die Einladung: Schreibe deine Klagen auf einen Zettel und stecke sie in die Ritzen der Mauer. Ähnlich wie bei der bekannten Klagemauer in Jerusalem, findet der Besucher hier einen Ort, um etwas loszuwerden, das ihm auf dem Herzen liegt. Für die Gäste des Klostergartens liegt in einem Kasten alles bereit, was nötig ist: Zettel, Stifte – und auch ein Päckchen Papiertaschentücher. Ein liebevolles kleines Zeichen der Aufmerksamkeit – kein Trost, aber eine stille Geste: Hier darfst du weinen und hier darfst du deine Tränen loswerden. Und trockne deine Tränen, wenn du genug geweint hast.
Diese Beobachtung ist eine unter vielen, die jeder jeden Tag machen kann. Vielleicht hat der eine oder andere sogar heute schon die Begegnung mit einem Papiertaschentuch gemacht. 21 mal 21 Zentimeter, handlich gefaltet und praktisch verpackt. Heute feiert das Papiertaschentuch seinen 90. Geburtstag. Zeit für eine Würdigung. Am 29. Januar 1929 wurde das Papiertaschentuch mit dem Namen Tempo zum Patent angemeldet. Seitdem ist es ein Alltagsbegleiter, der nicht mehr wegzudenken ist.
Es ist meistens da, wo es unangenehm ist. Wenn jetzt im Winter Schnupfenzeit ist und die Nase läuft, ist es zur Stelle. Rund fünfhundert Mal im Jahr greift der Bundesbürger zum Papiertaschentuch. So kommt die imposante Zahl von rund 39 Milliarden Papiertaschentüchern zustande, die hierzulande jährlich verbraucht werden.
Fast ein Lebensbegleiter: Wenn ein Kind sich das Gesicht mit Schokolade oder Eis verschmiert hat, geht es los. Bei jeder Erkältung kommt es zum Einsatz. Und die Tränen, immer wieder Tränen: Kindertränen und die Tränen des ersten Liebeskummers, die Tränen der Jungen und Alten, der Verlassenen und der Klagenden. Wie gut, wenn ein Taschentuch zur Hand ist. Und wie ärgerlich, wenn es fehlt.
Im Himmel gibt es keine Tempos. Aber, wenn es nach der Bibel geht, den großen Trost. Ganz am Ende bietet die Bibel in ihrer Vision von der neuen Welt alles auf, was man sich an Pracht und Herrlichkeit vorstellen kann: eine Stadt aus Gold und Edelsteinen, eine Stadt, in der es nur Licht und Herrlichkeit gibt. Aber das Entscheidende dabei ist: Gott wird bei den Menschen wohnen. Und wie beschreibt die Bibel nun dieses Wohnen Gottes unter den Menschen? Mit einer einzigen, nahen und liebevollen Geste – Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. „Er wird in ihrer Mitte wohnen, sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.“
Wollte man einen ganz großen Bogen spannen und danach fragen, wie Gott handelt, dann findet man etwas Denkwürdiges. Die Bibel beginnt mit dem Handeln Gottes, der die Welt erschafft. Am Beginn der Bibel spricht er und erschafft durch sein Wort die Welt. Und ganz am Ende trocknet er die Tränen der Menschen – und nimmt auf, was an Leid in der ganzen Geschichte der Welt gesammelt und getragen wurde. Das Abwischen der Tränen ist das letzte Handeln Gottes, von dem die Bibel schreibt.
Vom Papiertaschentuch bis zur Endzeitvision der letzten Seiten der Bibel: Das ist schon ein enorm großer Sprung. Der winzige Wegwerfartikel bekommt hier einen sehr großen Rahmen. Manchmal ist allerdings die Winzigkeit einer Alltagserfahrung offen für das Große, um das es letztlich geht. Und ich mag nicht bestreiten, dass jemand dort etwas vom Himmel sieht und erfährt; etwas von dem, was am Ende sein soll, wenn ihm jemand behutsam eine Träne abwischt.
Die redaktionelle Verantwortung hat Martin Korden.
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Über den Autor Peter-Felix Ruelius

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