




Morgenandacht, 28.10.2017
von Pfarrer Christoph Seidl aus Regensburg
Zuflucht und Burg
Nach einer langen Wanderung an einer Berghütte anzukommen, gehört für mich zu den schönsten Wandererlebnissen. Ich wandere gern in Südtirol, und da steht auf den Hütten das schöne italienische Wort Rifugio. Da ist das lateinische refugium enthalten: Zuflucht. Nicht nur ein Dach über dem Kopf zu haben, ist da wichtig, sondern auch freundliche Menschen zu treffen, bei denen ich mich willkommen fühle. Im deutschen Begriff „Schutzhaus“ oder „Schutzhütte“ klingt noch etwas an von der Zuflucht. Tatsächlich finde ich in so einem Haus auf dem Berg in aller Regel freundliche Menschen, die es sogar schaffen, sich ungezwungen zu bislang unbekannten Leuten an den Tisch zu setzen und ein Gespräch zu beginnen. Bergwanderer teilen ein Tageserlebnis, ein gemeinsames Hobby, einen kleinen Teil ihrer Biografie!
Refugium. Dieses Wort begegnet mir mittlerweile öfter. Eine Seniorenresidenz trägt diesen Namen. Auch ein Restaurant heißt so. Und ich denke an die Flüchtlingsunterkunft in meiner Straße – Zu-Flucht. Überall dort ist es wichtig, die aktuelle (kleine oder große) Lebenssituation mit anderen zu teilen und neben einem sicheren Ort auch sympathische Menschen zu treffen. Sympathisch – auch ein interessantes Wort: Sym (zusammen) und Pathos (Leid oder Leidenschaft): also etwas gemeinsam erleben, Leid teilen, eine Leidenschaft miteinander pflegen. Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Grad der persönlichen „Sympathie“ - ob ich jemanden gut oder weniger gut „leiden“ kann. Aber in wichtigen Situationen oder Phasen des Lebens steht das rein persönliche Empfinden schon mal im Hintergrund – denn jetzt geht es darum, Leben zu teilen.
Rifugio – die Berghütte – ist für mich in doppelter Hinsicht ein Bild fürs Leben: Zum einen symbolisiert die Hütte meine Sehnsucht nach einer Bleibe, nach einem Schutz vor allerlei Herausforderungen, die ein Lebensweg mit sich bringt. Allerdings bleibt man in einer Berghütte nicht sehr lange – für eine Pause, allenfalls für eine Nacht. Dann zieht es mich wieder nach draußen. Und das ist die andere Seite des Symbols: Ich spüre auch die Sehnsucht nach der Weite, nach Bewegung und Wanderschaft. Alle Bleiben auf dieser Welt sind vorübergehend, der Normalfall des Lebens ist das Unterwegssein, nicht selten auch das Unbehaustsein.
Der Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) hat einmal gesagt, für ihn sei das Unbehaustsein des Menschen und seine innere Unruhe ein Gottesbeweis. Er begründete das mit der „Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben -, dass wir hier auf Erden nicht zuhause sind, nicht ganz zuhause sind, dass wir also woanders hingehören und von woanders herkommen.“ Böll meint, „dass es sich hier keineswegs um ein bloßes Gefühl handelt, sondern vielleicht um eine uralte Erinnerung an etwas, das außerhalb unserer selbst existiert.“[1]
Vielleicht haben Menschen deshalb vor ein paar tausend Jahren in ihren Gebeten Gott ihre eigentliche Zuflucht genannt, wie zum Beispiel im alttestamentlichen Psalm 91:
„Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: 'Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.'“(Ps 91,1f).
Gottvertrauen – auch ein Refugium: Unterwegs auf den Höhen und Tiefen des Lebens mit der tiefen Glaubensgewissheit, dass es in meinem Inneren ebenso einen Rückzugsort wie eine Kraftquelle gibt, die mich immer wieder weitergehen lässt. Samuel Rodigast hat es 1675 in einem Kirchenlied so formuliert:
„Es mag mich auf die raue Bahn
Not, Tod und Elend treiben,
So wird Gott mich ganz väterlich
in seinen Armen halten;
drum lass ich ihn nur walten.“ (GL 416,4)
Wenn sich in der kommenden Woche viele Menschen wieder an den Gräbern ihrer Lieben treffen, könnte dieser Gedanke wie ein Rifugio sein.
[1] Heinrich Böll, zit. n. Publik Forum 17 / 1983, 18f.
Über den Autor Pfarrer Christoph Seidl

seidl@seelsorge-pflege.de
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